Am 12. Oktober 2024 fand im Landratsamtssaal in Neumarkt in der Oberpfalz eine Fachveranstaltung zum Thema „Physiotherapie im Spannungsfeld einer sich wandelnden gesundheitspolitischen und sozialen Struktur“ mit rund 70 Teilnehmenden statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von Dr. Janka, Chefarzt der Neurochirurgie am Klinikum Neumarkt. Im Rahmen einer Kooperation nahmen auch zwei wissenschaftliche Mitarbeiter*innen der Ostbayerischen Technischen Hochschule (OTH) aus dem Labor Physiotherapie unter der Leitung von Prof. Dr. Andrea Pfingsten teil. Sie beteiligten sich aktiv mit Vorträgen und regten zur Diskussion über die Entwicklung des Berufsbildes Physiotherapie und die damit verbundenen Herausforderungen an.
Akademisierung und Professionalisierung der Physiotherapie
Herr Schedel, M.Sc. hielt im Rahmen der Veranstaltung einen Vortrag mit dem Titel „Akademisierung der Physiotherapie – Herausforderungen der Profession meistern“. In seinem Vortrag gab er spannende Einblicke in die aktuelle Entwicklung der Physiotherapie und legte einen besonderen Fokus auf die berufssoziologische Betrachtung. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Frage, welche Rolle die Physiotherapie in einer sich verändernden Gesellschaft zukünftig einnehmen sollte. Die Akademisierung wurde dabei nicht als Selbstzweck, sondern als wesentlicher Schritt zur Disziplinbildung und Professionalisierung gesehen. Diese Sichtweise steht in engem Zusammenhang mit der Professionsforschung, die den Übergang von einem Beruf zu einer Profession als einen Prozess beschreibt, der durch wissenschaftliche Fundierung und zunehmende Autonomie der Berufsangehörigen gekennzeichnet ist.
Selbstdefinition der Physiotherapie als Profession
Ein weiterer zentraler Aspekt der Darstellung war die Diskussion der Selbstdefinition der Physiotherapie als Profession. Dabei wurden berufssoziologische Theorien aufgegriffen, um typische Merkmale einer Profession wie strenge Ausbildungsregelungen, eine klar definierte wissenschaftliche Wissensbasis und eine hohe Entscheidungsautonomie herauszuarbeiten. Diese Merkmale wurden den aktuellen Entwicklungen in der Physiotherapie gegenübergestellt, die bisher von einer Teilakademisierung und einer Professionalisierung in den Kinderschuhen geprägt sind.
Anforderungen aus Sicht der Patient*innen und des Gesetzgebers
Darüber hinaus beleuchtete der Vortrag die Anforderungen an die Physiotherapie sowohl aus Sicht der Patient*innen als auch der Gesetzgeber. Besonders hervorgehoben wurde die evidenzbasierte Praxis als zentrales Element der Professionalisierung. Die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in den klinischen Alltag sei essentiell, um den steigenden Anforderungen an die Patientenversorgung gerecht zu werden.
Diskussion zur Vollakademisierung der Physiotherapie
Der Vortrag regte zur Diskussion an, insbesondere über die Frage, inwieweit die Vollakademisierung der Physiotherapie die Qualität der Patientenversorgung nachhaltig verbessern kann. Insgesamt bot der Vortrag einen tiefen Einblick in die aktuellen Herausforderungen der Physiotherapie und skizzierte die notwendigen Schritte, um den Beruf weiterzuentwickeln und langfristig als eigenständige Profession zu etablieren.
Rolle der Manuellen Therapie in der modernen Physiotherapie
Der Vortrag von Elke Schulze, M.Sc. ACP OMT stand unter dem Titel „Die Rolle der Manuellen Therapie in der modernen Physiotherapie“ und beleuchtete sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die praktische Anwendung der Manuellen Therapie (MT). Frau Schulze stellte sich mit ihrer über 25-jährigen Erfahrung als MT-Dozentin und ihrer umfangreichen OMT-Ausbildung vor. Sie betonte die Bedeutung der MT bei der Behandlung von neuromuskuloskelettalen (NMS) Problemen. Die Manuelle Therapie basiert auf spezifischen Techniken zur Schmerzbehandlung und funktionellen Wiederherstellung auf der Grundlage des „Clinical Reasoning“, also der individuellen Anpassung der Therapie.
Fortgeschrittene Praxis in der Physiotherapie
Ein Beispiel für moderne Physiotherapie ist das Modell der „Advanced Practice in Physiotherapy“ (APP), das zusätzliche Fertigkeiten wie Injektionen und Medikamentenverordnungen sowie eine orthopädische Trage beinhalten kann. Schulze kritisierte, dass Deutschland hier international hinterherhinke, während andere Länder wie Großbritannien und Kanada APP bereits gewinnbringend einsetzten.
Evidenz und Ausbildung in der Manuellen Therapie
Schulze zitierte Studien, die die Wirksamkeit der MT bei Erkrankungen wie Schulterschmerzen und Kniearthrose belegen, wobei die MT in Kombination mit Bewegung zu signifikanten Verbesserungen führen kann. Sie verglich die Ausbildungsstrukturen international und stellte fest, dass die deutsche MT-Ausbildung mit 260 Unterrichtseinheiten hinter den internationalen Standards zurückbleibt, die zumeist im Rahmen eines Masterstudiums ausbilden. Ein weiteres Problem sei die uneinheitliche Qualität der Lehre in Deutschland.
Praxisbeispiele aus der Manuellen Therapie und Fazit
Anhand von Praxisbeispielen demonstrierte sie die Anwendung der MT bei typischen Beschwerden wie Schulter- und Knieschmerzen und betonte den integrativen Charakter der MT. Abschließend diskutierte sie die Herausforderungen und Chancen der MT, wobei sie die Bedeutung einer evidenzbasierten Praxis und die Rolle der MT als Assessmentverfahren zur Differentialdiagnostik hervorhob. In der anschließenden Diskussion wurden die Erfahrungen der Teilnehmenden mit der MT vertieft.
Der Vortrag von Frau Schulze bot wertvolle Einblicke in die Stellung der Manuellen Therapie in der modernen Physiotherapie, insbesondere im Hinblick auf die evidenzbasierte Anwendung und die Herausforderungen in der Ausbildung. Die Integration der MT in die moderne Physiotherapie ist eine spannende Entwicklung, die in Deutschland noch nicht etabliert ist.