SWR Story: „Physiotherapie – Ein hinkendes System?“
Prof. Dr. Pfingsten nimmt Stellung zum Fernsehbeitrag
Der Beitrag des SWR veranschaulicht die prekäre Lage von Physiotherapeut*innen in Deutschland. Einerseits stellen Ärzt*innen Heilmittelverordnungen nach den Vorgaben des Heilmittelkatalogs aus, der nachweislich unwirksame Interventionen enthält und auf denen Therapieform, Menge und Frequenz angegeben sind. Andererseits besteht der Anspruch an die Therapie evidenzbasiert zu erfolgen.
https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNDk4NTU
Prof. Dr. Andrea Pfingsten bekräftigt und kommentiert die Aussagen des Beitrags:
Therapieform sowie deren Frequenz und Dosierung können unter diesen Bedingungen weder am Patient*innenbedarf noch an der zur Verfügung stehenden Evidenz orientiert werden. Therapeut*innen sind jedoch bestrebt, ihre Patient*innen so effizient wie möglich zu unterstützen. Daher weichen sie häufig bei ungeeigneten Verordnungen von den Vorgaben ab, was an deren Sinnhaftigkeit zweifeln lässt.
Unklare Lösungsansätze
Lösungsansätze wie Blankoverordnung oder Direktzugang, im Rahmen derer die Entscheidung über die Therapie an Physiotherapeut*innen übergehen würde, werden in Deutschland seit Jahren diskutiert und teils getestet, ohne dass Fortschritte gemacht werden. Die Blankoverordnung ist inzwischen gesetzlich möglich, wird aber nicht umgesetzt. Der für entsprechende Regelung zuständige GKV-Spitzenverband steht für ein Interview im Rahmen des Beitrags nicht zur Verfügung und lehnt schriftlich eine Aussage zum Verhandlungsabschluss ab, erhofft diesen aber zeitnah. Was unter zeitnah zu verstehen ist, bleibt jedoch unklar.
Erik Bodendiek, Allgemeinmediziner und als Vorsitzender der Bundesärztekammer zuständig für die Physiotherapie, vertritt die Auffassung, dass die Entscheidung für Therapieform und -gestaltung bei den Ärzt*innen liegt, auch wenn diese nur in Abhängigkeit ihrer Grundausbildung dafür geeignet seien. Er befürchtet Haftungsprobleme für Ärzt*innen für die durch die Physiotherapeut*innen durchgeführte Therapie und erläutert dies mit der fehlenden Weitergabe von Diagnosen durch Ärzt*innen bei Blankoverordnungen. Gleichzeitig sieht er beispielsweise bei Arthrose und Rückenbeschwerden, Physiotherapeut*innen als die besten Ansprechpartner*innen und hierin auch eine Möglichkeit, nicht erforderliche Operationen zu vermeiden. Ob das als Stellungahme für den Direktzugang gewertet werden kann, bleibt ebenfalls offen.
Auch wenn der Fernsehbeitrag fachlich den Schwerpunkt auf die ambulante Versorgung muskuloskelettaler Beschwerden legt, obwohl Physiotherapie auch für anders verursachte herausfordernden Situationen, die Bewegung und Funktion gefährden, Kompetenzen aufweisen und in allen Settings der Gesundheitsversorgung arbeiten, zeigt er die durch das System entstehende mangelhafte Versorgung eindringlich auf.
Letztes europäisches Land
Diskutiert wird ebenfalls die Schlusslichtposition Deutschlands bei der Ausbildung von Physiotherapeut*innen. Deutschland ist das letzte europäische Land, bei dem für die Ausübung des Berufs nicht mindestens ein Bachelorabschluss erforderlich ist. Befragte Studierende erfahren ihre größeren Kompetenzen in Evidenzbasierung und Differentialdiagnostik als großen Vorteil gegenüber denjenigen, die an Berufsfachschulen ihren Berufsabschluss erlangen, was der weitaus größere Anteil ist.
Als Fazit kann gezogen werden, dass fehlende Autonomie und fehlende Vollakademisierung in Deutschland eine bestmögliche Versorgung von Patient*innen mit Physiotherapie verhindern. Es gibt keine Pläne, an diesem Zustand im Rahmen der anstehenden Neufassung des Berufsgesetzes etwas zu verändern. Auch vom Bundesministerium für Gesundheit hatte im Rahmen des Beitrags niemand Zeit, hierzu Stellung zu beziehen.